SCHICHTPORTRAITS / Texte

Aus dem Kernprojekt entstehen weiterführende, aber integral zu ihm gehörende künstlerische Experimente, die die Grundfragestellungen abwandeln und erweitern, verschärfen und pointieren. So bisher die Hybriden und Polykephalporträts, in denen – mit je verschiedenen Schwerpunkten und Vorgehensweisen – reproduzierte Porträtschichten sowohl digital als auch analog bearbeitet werden: durch digitale Veränderungen, Überblendungen oder Kombinationen sowie durch malerische, graphische oder andere materielle Bearbeitungen.

Ausstellbar sind immer nur Zwischenergebnisse des offenen Prozesses. Doch es ist nicht nur das entscheidend, was zu sehen ist und was ausgestellt wird: gerade im Schichtporträt-Projekt stellt sich deutlich die Frage nach dem, was nicht sichtbar ist, was unsichtbar bleibt und unsichtbar wird, was ausgelassen und vergessen wird und erinnert werden muss. Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar, schrieb Paul Klee. Das Schichtporträt-Projekt macht im wörtlichen Sinn nicht nur sichtbar, was es offensichtlich zeigt, sondern auch das, was in ihm unsichtbar anwesend ist, nicht nur als Spur. Und es macht erfahrbar und bewusst, was es nicht bewusst und nicht sichtbar machen kann. Daher sind die verschiedenen Ausstellungen, bei denen immer andere Ergebnisse und Dokumente ausgewählt und präsentiert werden, immer anderes ausgelassen und nicht gezeigt wird, integraler Teil des prozessualen Projekts. Jede Ausstellung macht auf spezifische Weise bewusst, dass die Wirkung der Schichtporträts auf die Betrachter radikal abhängig ist vom Zeitpunkt und den räumlichen Gegebenheiten der Ausstellung, von der Auswahl der gezeigten Kunstwerke und Dokumente, von den beigegebenen Informationen und der Art und Weise der Präsentation, -und auch von der An-oder Abwesenheit der Porträtierten. Das Schichtporträt-Projekt kann in Hinsicht auf eine der existentiellen Grundfragen, die sich mit ihm am unerbittlichsten stellt, als ein sinnliches metaphorisches Modell für das angesehen werden, was man mit Begriffen wie Individualität und Persönlichkeit, Vorstellung und Erscheinung, Sein und Schein zu fassen versucht.

Wie lässt sich, wenn überhaupt, Individualität, einschließlich des Intimsten und Persönlichsten, erfahren und erfassen, und wie, wenn überhaupt, äußern, mitteilen und repräsentieren? Welche Transformationsprozesse bestimmen Individuation und Individualität? Welche Rolle spielen Raum und Zeit, Dauer und Vergänglichkeit, Erinnern und Vergessen? Welche Rolle spielen Jugend und Alter, Substantielles und Akzidentielles, Zufälliges und Notwendiges, Bewußtes und Unbewußtes, Aussehen und Erscheinung, Körper und Geist, Mimik und Gestik, Gesicht und Augen?

Wie beeinflussen oder bestimmen uns die Blicke der anderen: die realen, die vermeintlichen und die verinnerlichten? Wie mischen sich in unser Bild ihre und unsere sich an unsere Erscheinung und unser Auftreten knüpfenden Vorstellungen, Projektionen und Phantasmata? Nur einige von vielen Fragen.
Das Schichtporträt-Experiment dient als dynamisches Modell, dessen medial vermittelte Ergebnisse dem späteren Betrachter … dessen Entstehungsprozess aber schon dem Künstler und den Porträtierten durch die dabei gemachten Erfahrungen zu erkunden hilft, wer man selbst und wer der Andere ist, -sogar der Andere, der man sich selbst ist. Wer man für sich, für uns, für andere und im kommunikativen Miteinander ist. Ein sinnliches Modell, das uns erkunden lässt, was einem in einem selbst unbekannt ist, das uns deutlicher werden lässt, was sich uns erst über den anderen erschließt, das uns ahnen lässt, wie wir dasjenige an uns oder an ihm erfassen können, was einzigartig, nicht offensichtlich oder fremd ist, -aber auch, woran wir bei diesen Versuchen notwendig an Grenzen stoßen oder scheitern. Zahlreiche Fragen stellten sich uns schon bei der Konzeption des Projekts, viele kamen im Laufe des Prozesses hinzu und stellten sich anders oder neu, oft deutlicher und radikaler:

Was ist ein Porträt, was kann ein gemaltes Porträt heute noch sein? Wodurch zeichnet es sich aus in einer Zeit, in der Fotografien und 3-D-Prints allgegenwärtig sind? Was ist ein Individuum, was ist ein Gesicht, was bedeuten sie uns? Welche Rolle spielen das Bildganze und der Modus der Präsentation für das Porträt? Kann ein Gesicht – das gerade in seinen ästhetischen Aspekten essentiell der Kommunikation mit anderen dient – unabhängig von demjenigen erfaßt werden, der mit ihm interagiert und kommuniziert? Bedarf nicht jedes Gesicht essentiell einer kommunikativen und imaginären Ergänzung? Ist ein Gesicht nicht mehr für andere als für uns selbst geschaffen? Wieso bewegen uns Gesichter emotional? Muß nicht jedes Gesicht notwendig unvollständig bleiben ohne Gegenüber, ohne Korrelat – und sei dieses nur das zurückblickende Spiegelbild? Was schreibt sich in ein Gesicht ein, was überlagert und durchfurcht, was ‚kerbt‘ es? Kann ein Gesicht, ein Gesicht zu einem besonderen Zeitpunkt, in einem besonderen Licht, kann ein Brustbild, eine einzelne Perspektive auf einen Menschen, kann eine spezifische Mimik oder Haltung pars pro toto für eine ganze Person, für ein Individuum stehen? Was lässt es von ihm erkennen, was nicht?

Was ist die ‚Substanz‘ eines Individuums, einer Person oder eines Porträts; wovon wird abstrahiert, was wird hinzugefügt? Was wird vermittelt? Was ist mitteilbar, kommunizierbar, und was nicht? Gibt es neue Wege der Mitteilbarkeit? Gibt es überhaupt das Ganze einer Person, eines Individuums, seine relative Geschlossenheit? Was bleibt fragmentarisch, heterogen, zusammenhanglos,
disharmonisch und diskontinuierlich? Welche Rolle spielen die Zeit und unsere wechselnden Verhältnisse und Bezüge zu ihr: zum flüchtigen Augenblick ebenso wie zu größeren Zeiträumen, zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zu unserer Endlichkeit und zur Frist, die uns bleibt, aber auch zum Wiederholbaren und zum Unwiederbringlichen? Bestimmt nicht unser zu verschiedenen Zeiten wechselndes Verhältnis zur Zeit in radikaler Weise uns selbst? Welche Rolle spielen Erinnerungen, medial vermittelte Bilder, innere Bilder, Vorbilder, Wahrnehmungsmuster,
Stereotypen und die unmittelbare Konfrontation mit einem Menschen für das Bild, das wir uns von ihm machen? Was geschieht, wenn ein Künstler oder ein Betrachter mit dem Gesicht, mit dem Porträt als Ganzem in Interaktion tritt? Mit ihm imaginär oder real kommuniziert? Was lässt sich nicht biometrisch erfassen, was lässt sich nicht simulieren und maschinell decodieren? Was ist in einem Gesicht und in einem Porträt mehr als bloße Information? Beeinflusst nicht nur das Wissen des Künstlers, sondern auch das Wissen des Betrachters über die Porträtschichten, die unter der aktuellen Schicht liegen, sein Sehen, seine Wahrnehmung und seine Empfindungen der aktuellen Schicht, der Repräsentation eines Individuums? Kann Vergangenheit repräsentiert oder reaktualisiert werden? Welchen Veränderungsprozessen und -kräften sind Vergangenes, Erinnertes und Gegenwärtiges unterworfen? Formen oder deformieren wir sie immer schon? Welche Rolle spielen unser Vorwissen, das Vergessen und die Erinnerung neben der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung, neben der materiellen Präsenz des Porträts oder der körperlichen, geistigen und seelischen Präsenz des Porträtierten? Welche Rolle spielt es, ob der Betrachter den Porträtierten kennt und was er über ihn weiß – oder meint zu wissen? Und wie fließen diese Wechsel-und Rückkopplungsprozesse in den Wahrnehmung-und Gestaltungsprozess ein? Wie wirken die immateriellen Reproduktionen auf die Wahrnehmung des materiellen Originals zurück – und umgekehrt? Was ist das Unzugängliche und Widerständige eines Individuums oder seines Porträts? Was ist das Andere seiner reproduzierten Schichten im Vergleich zu ihrem Original? Was läßt die Aura eines Kunstwerks entstehen? Wodurch intensiviert sich die Aura eines Kunstwerks, eines Individuums, was mindert sie? Porträtiert der Künstler sich im anderen, im Porträtierten, mit? Schaffen wir im Bild, das wir uns von anderen machen, nicht zugleich ein Bild von uns selbst? Welche Rolle spielt Empathie für den Betrachter eines Porträts, und welche Rolle spielt sie während des Entstehungsprozesses im interaktiven Dreieck von Porträtierendem, Porträtiertem und Porträt? Welche empathischen Bezüge, welche bewußten und unbewußten Vorstellungsbilder und Projektionen, welche emotionalen Assoziationen, Stimmungen und Atmosphären, und welche Erinnerungen an den Porträtierten fließen in die Entstehung eines Porträts ein? Wie wirkt es zurück auf den Porträtierten?

Viele dieser Fragen haben zu diesem Projekt geführt, und es war von Anfang an klar, dass das Projekt, gerade in der es begleitenden Auseinandersetzung und im Gespräch, viele weitere Fragen aufwerfen, Zwischenergebnisse und -erkenntnisse bringen wird, die zu neuen Fragen und neuen experimentell-künstlerischen Anknüpfungen und Neuansätzen führen werden, die für uns noch nicht absehbar waren und es noch immer nicht sind. Aber gerade das macht das Projekt für uns – und wie wir hoffen, auch für andere – weiterhin spannend.